Interview mit Andreas Schuß

Das Wort „Barmherzigkeit“ gehört nicht gerade zu den aktuellen „Worten des Jahres“. Wer barmherzig ist, läuft ein wenig Gefahr, mildtätig belächelt zu werden. Barmherzigkeit, Mitgefühl oder auch Mitleid werden oft zusammen gedacht. Durch die diesjährige Jahreslosung, welcher von der „Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen“ festgelegt, rückt Barmherzigkeit nochmal mehr in den Blickpunkt vieler Menschen. „Seid barmherzig wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“, so lautet der Leitvers für 2021. Andreas Schuß hat sich in seinem aktuell erschienenen Buch „Barmherzig wie Gott“ ausführlich mit dem Thema auseinandergesetzt. Die Kernaussage seines Buches lautet: Barmherzig zu sein wie Gott ist eine ungewöhnliche, aber sehr wirkungsvolle und verblüffende Antwort auf viele Nöte unserer heutigen Zeit. Im Interview erläutert Andreas Schuß was ihn dazu bewogen hat dieses Buch zu schreiben, was ihn persönlich herausgefordert und begeistert hat. 

Was hat die bewogen dieses Buch zu schreiben? Eigentlich beschäftigten sich die Menschen doch gerade mit anderen Themen wie: Pandemie, Verschwörungstheorien, zunehmende Existenzängste, die Folgen des Brexits u.a.m. 

Der Ur-Impuls zu diesem Buch liegt schon über zehn Jahre zurück. Während meines berufsbegleitenden Studiums war für mich der wohl größte Aha-Moment: Gott hat ein Herz für die Armen und für alle deren Leben nicht rund läuft. Dies Sorge Gottes für Menschen in Krisensituationen des Lebens hat seinen Ursprung in seiner Barmherzigkeit. Diese Entdeckung während des Studiums hat letztendlich dazu geführt, dass ich als Gemeindereferent für ein Hilfswerk unterwegs bin. Letztes Jahr, als der erste Lockdown war, konnte ich, von heute auf morgen, keine Gottesdienste mehr mit Gemeinden gemeinsam gestalten. Dieses Mehr an Zeit habe ich genutzt, um mir vertiefende Gedanken zu machen. Barmherzigkeit – das Wort klingt schön und auch recht angestaubt. Gibt man den Begriff Barmherzigkeit bei Google ein, bestätigt sich der Eindruck, Barmherzigkeit scheint nicht en vogue zu sein. Die Einträge, die man findet, stammen vor allem aus dem theologischen Umfeld. Und es deutet alles darauf hin, als würde sich das Wort Barmherzigkeit wohl bald auf der Liste der vergessenen Wörter wiederfinden.  Mir ist es wichtig, Barmherzigkeit neu zu beleben – als Wort und als Haltung. 

In deinem Buch beschreibst du viele biblische und aktuelle Beispiele für gelebte Barmherzigkeit. Welche Geschichte hat dich am meisten berührt? 

Als biblische Geschichte berührt mich, wie wahrscheinlich viele andere auch, die Geschichte vom barmherzigen Vater am stärksten. Der Sohn, der sich wünschte, sein Vater wäre tot, damit er an sein Erbe kommt, fährt sein Leben an die Wand. Und dann, als im Schlamassel seines Lebens zu versinken droht beschließt er zurück zum Vater zu gehen. Dem Vater sind all die Geschehnisse der Vergangenheit scheinbar vollkommen egal. Es interessiert ihn nicht. Überhaupt nicht. Als er seinen Sohn sieht rennt er ihm entgegen und umarmt ihn freudig. So barmherzig ist Gott. Aber auch Menschen haben mich mit ihrer Barmherzigkeit begeistert. Insbesondere hat es mir der Fußballer und gläubige Moslem Mo Salah angetan. Als eines Tages in das Haus seiner Eltern eingebrochen wurde, konnte der Täter sofort gestellt werden. Normalerweise wäre der Dieb der Polizei übergeben worden; er hätte somit seine gerechte Strafe erhalten. Doch Mo Salah hatte ein so großes Herz, dass er sich dafür einsetzte, dass der Einbrecher nicht angezeigt wurde. Er hat ihm eine zweite Chance gegeben, etwas anderes zu tun, als Verbrechen zu begehen. Das hat mich begeistert. Ich denke Barmherzigkeit kann Brücken bauen zwischen Gott, unter uns Menschen und zwischen den Religionen. 

In deinem Buch lässt du ja immer mal durchblicken, dass das mit der Barmherzigkeit gar nicht so einfach ist. Was hat dich beim Schreiben des Buches am meisten herausgefordert?

Das letzte Kapitel meines Buches heißt „Barmherzige Taten“. Darin beschreibe ich anhand der berühmten Werke der Barmherzigkeit und engagierter Männer und Frauen welche Bedeutung es für unsere leidende Welt haben kann Barmherzigkeit mit Leben zu füllen. Dabei wurde ich selbst neu berührt diese mitfühlende Haltung in meinen Lebensentwurf zu integrieren. Um barmherzig mit anderen und auch mir selbst gegenüber zu sein. Denn oft erlebe ich, wie ich recht hart mit mir selbst umgehe. Weil ich denke, mich ständig anstrengen zu müssen, um das Beste heraus zu holen. Wir fordern von uns oft die bestmögliche Leistung. Versuchen uns in der digitalen oder analogen Öffentlichkeit so perfekt wie möglich darzustellen. Die Bibel ist ein Buch, das den Menschen realistisch einschätzt, das von menschlichen Möglichkeiten und Abgründen weiß, wie auch

vom Angenommensein durch Gottes Liebe. Für unser Selbstkonzept sind wir zum großen Teil einfach selbst verantwortlich. Beim Schreiben habe ich neu begriffen, dass ich dafür sorgen sollte, trotz aller widrigen Umstande oder Misserfolge eine barmherzige Herzenshaltung mir selbst gegenüber zu bewahren. Das ich mich mit meinen Stärken und Schwächen aussöhne. 

Die Jahreslosung 2021 aus Lukas 6,36 „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“, hört sich ja erst einmal recht nett an. Barmherzigkeit, klar das ist wichtig. Welche Bedeutung hat die Jahreslosung für dich?

In dieser Aufforderung Jesu liegt eine gewisse Provokation. Denn wie soll das gehen, so zu sein und zu handeln wie Gott. Wie soll unser Mitgefühl das gleiche Niveau erreichen? Denn gerade mit einem Blick in unsere Welt und auf unser eigenes Handeln und Leben müssen wir feststellen, dass wir von dem Vorbild des barmherzigen Vaters weit entfernt sind. Das gute ist, das wir uns weder auf die Stufe Gottes aufschwingen können und sollen. Im Kontext des Verses wird deutlich, dass auch für Jesus der Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Barmherzigkeit existiert und bestehen bleibt. Interessant ist, dass die Barmherzigkeit in der Bibel zunächst gar keine menschliche Tugend ist. Zuallererst ist Gott selbst der Barmherzige. Und dann erst ergeht seine Aufforderung an die Menschen: „Seid barmherzig!“ Ich denke, in der Jahreslosung geht es vielmehr um einen Prozess, den wir eingehen sollen. Die oft verwendete Formulierung „Barmherzigkeit üben“ ist im doppelten Sinne zu verstehen. 

 

Wir brauchen mehr Mitgefühl! Jetzt! Mit biblischen wie aktuellen Beispielen macht Andreas Schuß deutlich, welch lebensverändernde Kraft Barmherzigkeit, die wichtigste christliche Grundhaltung, besitzt. Gerade in unserer heutigen Zeit ist sie so nötig wie nie zuvor und verblüfft durch ihre Wirkung.

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„Ein überraschendes, großzügiges, feines und aktivierendes Buch!“

 ﹣ Christine Faix

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